Rechtliche Grundlagen
Sexuelle Bildung in der Schule
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.12.1977 zur Sexualerziehung in der Schule regelt die sexuelle Bildung in Schulen bis heute. Darin sind folgende Punkte zu finden:
„1. Die individuelle Sexualerziehung gehört in erster Linie zu dem natürlichen Erziehungsrecht der Eltern im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG; der Staat ist jedoch aufgrund seines Erziehungs- und Bildungsauftrages (Art. 7 Abs. 1 GG) berechtigt, Sexualerziehung in der Schule durchzuführen.
2. Die Sexualerziehung in der Schule muss für die verschiedenen Wertvorstellungen auf diesem Gebiet offen sein und allgemein Rücksicht nehmen auf das natürliche Erziehungsrecht der Eltern und auf deren religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen, soweit diese für das Gebiet der Sexualität von Bedeutung sind. Die Schule muss insbesondere jeden Versuch einer Indoktrinierung der Jugendlichen unterlassen.
3. Bei Wahrung dieser Grundsätze ist Sexualerziehung als fächerübergreifender Unterricht nicht von der Zustimmung der Eltern abhängig.
4. Die Eltern haben jedoch einen Anspruch auf rechtzeitige Information über den Inhalt und den methodisch-didaktischen Weg der Sexualerziehung in der Schule.“
Kommentar: Den zitierten Stellen ist zu entnehmen, dass sexuelle Bildung in Schulen durchgeführt werden darf. Die sexuelle Bildung soll zwar Rücksicht auf das „natürliche Erziehungsrecht der Eltern“ nehmen, trotzdem ist sie nicht abhängig von der Zustimmung der Erziehungsberechtigten. Allerdings haben die Eltern einen Anspruch auf Information über die Inhalte sowie Methoden. Wichtig für die Durchsetzung von mehreren Unterrichtseinheiten oder Projekttagen bzw. -wochen ist, dass „Sexualerziehung als fächerübergreifender Unterricht“ zu verstehen ist. Das bedeutet, dass die sexuelle Bildung nicht auf den Biologie- oder Ethikunterricht beschränkt werden muss.
Die Kultusministerkonferenz hat Handlungsempfehlungen zur Vorbeugung und Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen und Gewalthandlungen in Schulen und schulnahen Einrichtungen vom 20.04.2010, i. d. F. vom 07.02.2013 formuliert, die für Präventionsveranstaltungen bezüglich sexueller und sexualisierter Gewalt genutzt werden können:
„[…] 16. Familien- und Sexualerziehung ist in allen Ländern regelmäßiges Unterrichtsangebot. Fragen der sexuellen Selbstbestimmung, des sexuellen Missbrauchs und auch der (sexualisierten) häuslichen Gewalt sind dabei Bestandteile der allgemeinen oder schulinternen Lehrpläne. So wie Fragen der Sexualerziehung alters- und entwicklungsabhängig mehrfach aufgegriffen werden, sind auch Fragen des Missbrauchs und der Misshandlung mehrfach im Laufe des Bildungs- und Erziehungsprozesses zu behandeln. Der Themenkomplex kann in verschiedenen unterrichtlichen Zusammenhängen aufgegriffen und diskutiert werden. Soweit die schulischen Curricula nicht genügend konkrete Anknüpfungspunkte anbieten, werden die Länder entsprechende Initiativen ergreifen. Vorhandene Erfahrungen und unterstützende Materialien müssen verbreitet und zugänglich gemacht werden.
17. Die Kooperation mit außerschulischen Partnern und die institutionelle Vernetzung sind besonders angezeigt. Opferhilfseinrichtungen, Frauenhäuser und Kinderschutzzentren können aus persönlicher Erfahrung zur vertieften Reflexion ebenso beitragen wie sie die Sensibilität gegenüber Opfern und ihrem Leiden entwickeln und stärken können. Ihre Kompetenzen, insbesondere auch diejenigen erfahrener Fachkräfte gemäß Bundeskinderschutzgesetz, sollten stärker als bisher genutzt werden, um im Einzelfall zwischen vagen Verdachtsmomenten, konkreten Hinweisen und akuter Gefährdung unterscheiden zu können. […]
19. Für die Sexualerziehung wie auch für die Programme zur Entwicklung der Persönlichkeit sind umfangreiche unterstützende Materialien für den Unterricht und die sonstige Bildungs- und Erziehungsarbeit – teilweise auch über das Internet – verfügbar und werden genutzt. Kooperationspartner bieten darüber hinaus eigene Materialien und Hilfsmittel, die dazu beitragen, dass Fragen gezielt gestellt und thematisiert werden können. Internetportale bieten den Lehrkräften weitere Hilfestellungen. Ihr Ausbau wird vorangetrieben. Die aktuellen Kommunikationsmittel erlauben betroffenen Kindern und Jugendlichen, telefonisch oder über das Internet Beratung und Hilfe zu erlangen. Hierüber sind die Kinder und die Eltern entsprechend zu informieren.
20. Die Gefahr sexualisierter Übergriffe an Schulen muss Thema der Lehrerbildung sein. Auf der Grundlage der „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 16.12.2004) umfasst die Ausbildung der Lehrkräfte neben der fachwissenschaftlichen Qualifizierung sowohl erziehungswissenschaftliche, psychologische und diagnostische als auch dienstrechtliche Themenstellungen. […]“
Kommentar: In diesen Empfehlungen findet sich in Punkt 16 der Hinweis auf die „Familien- und Sexualerziehung“. Diese soll auch die Prävention von sexueller und sexualisierter Gewalt, aber auch der Stärkung der Selbstbestimmung umfassen. In Punkt 17 und 19 wird explizit auf Kooperationspartner*innen verwiesen, die sowohl in die Präventionsmaßnahmen einbezogen, als auch als Ansprechpartner*innen fungieren sollen. Des Weiteren ist in Punkt 20 aufgeführt, dass der Themenkomplex der sexuellen und sexualisierten Gewalt in der Lehrer*innenausbildung integriert sein muss. Mit diesen Aspekten kann sowohl für die sexuelle Bildung von Schüler*innen, auf Grundlage von Punkt 16, 17, 19, jedoch auch für Lehramtsstudierende bzw. Lehrer*innen, auf Grundlage von Punkt 20, argumentiert werden.
Sexuelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit
Sexuelle Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit
In der Kinder- und Jugendarbeit sind die rechtlichen Regelungen weniger eindeutig. Trotzdem können einzelne Aspekte als Begründung genutzt werden.So besagt beispielsweise der § 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe im SGB VIII:
„(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. […]“
Kommentar: Dieser Paragraph kann insofern genutzt werden, als dass jeder Mensch eine sexuelle Entwicklung ab der Geburt durchläuft. Dementsprechend hat auch jeder Mensch ein Recht auf Förderung der sexuellen Entwicklung. Außerdem findet sich in der sexuellen Bildung eine Vielzahl an zwischenmenschlichen Belangen, die für die Formung der eigenen Persönlichkeit relevant sind. Insbesondere der Umgang mit eigenen und fremden Grenzen (aber auch viele weitere Themen) kann in sexualpädagogischen Veranstaltungen reflektiert werden und zu einer Eigenverantwortlichkeit und Gemeinschaftsfähigkeit beitragen.
Des Weiteren kann der § 11 Jugendarbeit SGB VIII genutzt werden:
„(1) Jungen Menschen sind die zur Förderung ihrer Entwicklung erforderlichen Angebote der Jugendarbeit zur Verfügung zu stellen. Sie sollen an den Interessen junger Menschen anknüpfen und von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und zu sozialem Engagement anregen und hinführen.“
Kommentar: Auch hier wird wieder auf die Entwicklung und somit auch auf die sexuelle Entwicklung verwiesen. Der Paragraph zeigt allerdings auch auf, dass die Angebote in der Jugendarbeit sich an den Interessen der Jugendlichen orientieren und ihre Selbstbestimmung fördern sollen. Gerade dadurch, dass im Jugendalter die Auseinandersetzung mit sich selbst und dem eigenen Körper, aber auch erste Verliebtheitsphasen und Beziehungen relevant werden, bietet sich eine gute Grundlage, sich an den Interessen der Jugendlichen zu orientieren.Insbesondere der Punkt der Selbstbestimmung kann bei einer Argumentation mit diesem Paragraphen hilfreich sein, denn die Förderung der Selbstbestimmung ist ein zentraler Inhalt der sexuellen Bildung.
„(3) Zu den Schwerpunkten der Jugendarbeit gehören:
außerschulische Jugendbildung mit allgemeiner, politischer, sozialer, gesundheitlicher, kultureller, naturkundlicher und technischer Bildung, […]“
Kommentar: In diesem Abschnitt wird explizit die gesundheitliche Bildung benannt, mit der sich viele Themen der sexuellen Bildung begründen lassen (bspw. Anatomie, Körperhygiene, STD, Schwangerschaft,…).
Auch der § 14 Erzieherischer Kinder- und Jugendschutz SGB VIII kann einen Rahmen für sexualpädagogische Veranstaltungen bieten:
„[…](2) Die Maßnahmen sollen junge Menschen befähigen, sich vor gefährdenden Einflüssen zu schützen und sie zu Kritikfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit sowie zur Verantwortung gegenüber ihren Mitmenschen führen, […]“
Kommentar: Mithilfe dieses Paragraphen lassen sich Veranstaltungen zur Prävention von sexueller und sexualisierter Gewalt begründen. Durch sexuelle Bildung lernen junge Menschen ihre Grenzen zu erkennen, sie zu verbalisieren und zu verteidigen, aber auch ihren Körper richtig zu benennen um im Fall eines Übergriffs beschrieben zu können, was passiert ist. Des Weiteren lernen sie die Grenzen anderer zu wahren und über Gefühle zu sprechen.
Im § 16 Allgemeine Förderung der Erziehung in der Familie SGB VIII finden sich ebenfalls Anhaltspunkte:
„[…](2) Leistungen zur Förderung der Erziehung in der Familie sind insbesondere
1. Angebote der Familienbildung, die auf Bedürfnisse und Interessen sowie auf Erfahrungen von Familien in unterschiedlichen Lebenslagen und Erziehungssituationen eingehen, die Familien in ihrer Gesundheitskompetenz stärken, die Familie zur Mitarbeit in Erziehungseinrichtungen und in Formen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe besser befähigen sowie junge Menschen auf Ehe, Partnerschaft und das Zusammenleben mit Kindern vorbereiten,
2. Angebote der Beratung in allgemeinen Fragen der Erziehung und Entwicklung junger Menschen, […]“
Kommentar: Der Punkt 1 in Abschnitt zwei des § 16 verweist auf die Förderung der Gesundheitskompetenz, die unter anderem durch sexuelle Bildung erreicht werden kann (bspw. Anatomie, Körperhygiene, STD, Schwangerschaft,…). Außerdem bezieht er sich ebenfalls auf die Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf Beziehungen und ein familiäres Leben. Insbesondere die sexuelle Bildung eignet sich für die Wissensvermittlung und Reflexion dieser Themen.Punkt zwei bezieht sich auf die Beratung in Fragen zur Erziehung und Entwicklung. In beide Bereiche fallen sowohl die sexuelle Entwicklung als auch die Sexualerziehung.
Allgemeine gesetzliche Grundlage
Außerdem finden sich im § 2 Beratung SchKG allgemeine Begründungen für die sexuelle Bildung:
„(1) Jede Frau und jeder Mann hat das Recht, sich zu den in § 1 Abs. 1 genannten Zwecken in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen von einer hierfür vorgesehenen Beratungsstelle auf Wunsch anonym informieren und beraten zu lassen.
(2) Der Anspruch auf Beratung umfaßt Informationen über
1. Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung, […]“
Kommentar: Dieser Paragraph regelt, dass jeder Mensch ein Recht auf Beratung und damit auch auf Sexualaufklärung hat. Dementsprechend kann er als Legitimation für sämtliche Bereiche der sexuellen Bildung genutzt werden.